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Von Marx bis Putin: Die Kontinuität russischer Außenpolitik

Karl Marx ist vor allem als Theoretiker des Kommunismus bekannt – oft mit Skepsis oder sogar Abneigung betrachtet, nicht zuletzt wegen der politischen Systeme, die sich auf ihn beriefen. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass Marx auch ein scharfsinniger Beobachter internationaler Politik war. Eine seiner heute nahezu vergessenen Schriften verdient besondere Aufmerksamkeit: „Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts“ (verfasst 1856–1857 für die New-York Tribune).

Diese Schrift ist kein ökonomisches Traktat und auch kein revolutionärer Aufruf – sondern eine klare Analyse europäischer Machtverhältnisse, insbesondere der russischen Außenpolitik zur Zeit der Zaren. Was Marx damals beschreibt, wirkt heute geradezu prophetisch – vor allem im Licht aktueller Konflikte wie dem Krieg in der Ukraine.

Worum geht es in der Schrift?

Marx analysiert die Diplomatie des 18. Jahrhunderts als ein System, das von Intrigen, Allianzen im Verborgenen und imperialer Strategie geprägt ist. Im Zentrum seiner Kritik steht Russland, dessen Politik er als langfristig und gefährlich einschätzt. Besonders auffällig ist, wie Marx bestimmte Muster beschreibt, die sich bis heute in veränderter Form wiederholen:

  • Expansion nach Westen, Süden und Südosten,
  • Einflussnahme unter dem Vorwand von Schutzverantwortung (damals für orthodoxe Christen),
  • Zersetzung durch geheime Bündnisse und Spaltungen anderer Mächte,
  • und die Tarnung imperialer Interessen als defensive Reaktion.

Dabei bleibt Marx nicht bei der moralischen Verurteilung stehen, sondern legt offen, wie diese Strategien funktionieren – mit erstaunlicher Detailkenntnis und geopolitischem Scharfsinn.

Was wollte Russland laut Marx?

Russlands zentrales Ziel sei gewesen, so Marx, sich dauerhaft Zugang zu warmen Meeren (insbesondere über das Schwarze Meer) zu verschaffen, um als Großmacht zu agieren. Dazu nutzte es ein fein gesponnenes Netz aus Diplomatie, Subversion und vermeintlicher Hilfeleistung für benachbarte Völker. Marx nennt diese Form der Außenpolitik eine „Politik des Wurms“, die sich langsam, aber sicher in die Strukturen anderer Staaten einfrisst – ohne offene Konfrontation, aber mit umso größerer Wirkung.

Was ist nach Marx passiert – und was heute?

Die von Marx beschriebenen Interessen blieben bestehen, auch wenn sich die Ideologien änderten:

  • Unter den Zaren wurde die Expansion auf dem Balkan und Richtung Mittelmeer fortgesetzt.
  • Die Sowjetunion übernahm viele geopolitische Ziele – mit anderen Begründungen, aber ähnlicher Struktur: Einflusszonen, Pufferstaaten, Kontrolle über Meereszugänge.
  • Nach dem Zerfall der UdSSR schien Russland zunächst geschwächt. Doch spätestens mit der Annexion der Krim 2014 und dem Angriff auf die Ukraine 2022 wurde klar: Die alten Interessen leben fort, nun legitimiert durch kulturelle, historische und sicherheitspolitische Argumente.

Warum lohnt sich die Lektüre heute?

In einer Zeit, in der Diplomatie oft hinter verschlossenen Türen betrieben wird, in der Großmächte Narrative formen, um ihre Interessen zu verschleiern, wirkt Marx’ Analyse erhellend und entlarvend. Sie zeigt, dass sich die Formen ändern – aber die Strukturen oft gleich bleiben. Wer internationale Politik verstehen will, tut gut daran, auch die scheinbar „veralteten“ Texte neu zu lesen.

Marx war kein Diplomat, aber ein präziser Diagnostiker der Macht. Seine Schrift ist ein Aufruf zur Transparenz, zur kritischen Reflexion und zur historischen Wachsamkeit. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.

Wer sich nicht von Marx’ späteren politischen Folgen abschrecken lässt, findet hier ein Stück Klartext über Macht und Strategie, das aktueller kaum sein könnte.

Leseempfehlung: Die Schrift ist auf Englisch online frei zugänglich