Geopolitischer Gesamtüberblick: Europa, China, Russland, USA, weitere Weltregionen
1. Europa
Europa steht vor einem geopolitischen Selbstmissverständnis. Die EU versteht sich primär als Friedensprojekt, das auf Softpower setzt: Diplomatie, Handel, rechtliche Normen, kulturelle Bindung. Sie will kein „Worldplayer“ im Sinne klassischer Machtpolitik sein. Diese Haltung funktioniert nur solange, wie andere die Hardpower bereitstellen – bislang vor allem die USA.
Mit dem drohenden Ausfall der USA als Sicherheitsmacht (z. B. unter einem erneut gewählten Donald Trump) steht Europa plötzlich in einer Welt, in der wieder militärische Macht, strategische Rohstoffe und geopolitische Einflusszonen das Geschehen bestimmen. Und es wird deutlich: Europa ist nicht vorbereitet.
Europa ist zu sehr „vergesellschaftet“. Es will Freiheit, Wohlstand und Sicherheit, aber kaum jemand ist bereit, diese mit dem eigenen Leben zu verteidigen. Damit wird die Ukraine zum symbolischen Stellvertreter für einen Wertekanon, den Europa selbst nicht mehr mit voller Konsequenz lebt.
2. Russland
Russland handelt aus einem tiefen historischen Narrativ heraus. Bereits bei Marx in der „Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts“ findet sich die Strategie, durch Zermürbung und Expansion Einflussräume zu sichern. Putin ist nicht der Urheber, sondern der Vollstrecker dieser Langzeitlogik.
Russland führt keinen kurzfristigen Eroberungskrieg, sondern einen systemischen Geduldskrieg: auf Zermürbung, Destabilisierung, Polarisierung und Zeitgewinn angelegt. Die Ukraine ist dabei kein Selbstzweck, sondern ein Hebel gegen Europa, gegen das westliche Ordnungsmodell und gegen den Verlust der imperialen Deutungshoheit.
3. China
China ist im Unterschied zu Russland strategisch geduldiger, leidensfähiger und kulturhistorisch tief verwurzelt. Die Demütigungen des 19. Jahrhunderts (v. a. durch die Opiumkriege) sind ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. China will nicht kurzfristige Dominanz, sondern Rückgewinnung historischer Bedeutung.
China zeigt ein „freundliches Gesicht“, während es seine Strukturen aufbaut. Es agiert ähnlich wie Sunzi es empfahl: mit List, Vermeidung direkter Konfrontation, aber strategischer Klarheit. Die Position Chinas zum Ukrainekrieg ist absichtlich vage – nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil China analysiert, wie stark der Westen wirklich ist, bevor es eigene Schritte geht.
China ist nicht der stille Zuschauer, sondern der langfristig mitplanende Akteur, der seinen Moment sucht.
4. USA
Die Vereinigten Staaten stehen in einer inneren Krise: Polarisierung, Strategiewechsel, Deindustrialisierung, Identitätsverlust. Mit Trump (und seinen Anhängern) droht ein Kurs, der Strategie durch Bauchgefühl ersetzt. Putin hat gelernt, wie man mit Eitelkeit spielt – und Trump ist anfällig für genau diese Methode.
Die USA verlieren an globaler Verbindlichkeit. Für Europa, für die Ukraine, für Taiwan ist das eine enorme Gefahr. Denn wenn die USA sich zurückziehen, entsteht ein Vakuum, das Russland und China füllen werden – nicht mit Verträgen, sondern mit Fakten.
5. Afrika
Afrika ist kein Machtzentrum, aber ein umkämpfter Raum der Zukunft.
- China investiert massiv in Infrastruktur (Neue Seidenstraße), Rohstoffe und politische Bindung.
- Russland betreibt über Söldner (z. B. Wagner) Einflussnahme in instabilen Staaten.
- Der Westen verliert zunehmend an Relevanz, auch weil viele afrikanische Staaten postkoloniale Enttäuschung empfinden.
Afrika ist eine Ressourcenquelle, Demografieträger und geopolitischer Katalysator, aber noch kein eigenständiger globaler Spieler. Das könnte sich ändern, wenn regionale Allianzen oder neue Bewegungen entstehen.
6. Südamerika
Auch Südamerika bleibt im Schatten der großen Machtblöcke. Die Region leidet unter:
- politischer Instabilität,
- wirtschaftlicher Abhängigkeit,
- geopolitischer Marginalisierung.
China und die USA konkurrieren zunehmend um Einfluss. Europa verliert an Bedeutung. Brasilien versucht sich als regionaler Player, aber ohne echte globale Reichweite.
Südamerika ist geopolitisch eine schlafende Flanke, deren Bedeutung vor allem in der strategischen Lagerung von Rohstoffen und Umweltfragen (Amazonas, Wasser, Biodiversität) liegt.
7. Südpazifik und Australien
Diese Region ist der potenzielle Austragungsort eines künftigen US-China-Konflikts, insbesondere:
- Taiwan,
- das Südchinesische Meer,
- strategische Inselketten.
Australien ist ein Schlüsselverbündeter der USA, zunehmend sicherheitspolitisch sensibilisiert. Gleichzeitig sind chinesische Investitionen in Australien ein heikles Thema. Die Region wird zum Testfeld globaler Machtprojektion, wobei kleine Inselstaaten als symbolische und strategische Positionen an Bedeutung gewinnen.
Fazit:
Die Welt steht an einem Wendepunkt. Was wie regionale Konflikte aussieht, ist Teil eines geostrategischen Spiels um Ordnung, Ressourcen und Deutungshoheit. Die Ukraine ist nicht nur Schauplatz, sondern Symbol. Europa muss sich entscheiden: Zuschauer bleiben oder Teil eines neuen Selbstbewusstseins werden, das nicht nur Rechte, sondern auch Verantwortung trägt.
China und Russland warten nicht. Die USA schwanken. Afrika und Südamerika bleiben Beobachtungsräume. Der Südpazifik ist der nächste Brennpunkt. Und Europa? Es muss endlich erwachen, sonst wird es – wie 1914 – schlafwandelnd in die Geschichte torkeln.