Weltgeschehen

Die wahre Katastrophe des 20. Jahrhunderts

Wenn Wladimir Putin den Zerfall der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet, offenbart das weniger historisches Bewusstsein als ein strategisch gesetztes Narrativ. Es verschiebt Ursache und Wirkung, Opfer und Täter, Geschichte und Deutungshoheit. Denn die eigentliche Katastrophe des 20. Jahrhunderts begann nicht 1991, sondern 1914.

Der Erste Weltkrieg war der Weltenbruch – politisch, gesellschaftlich, moralisch. Er beendete die alte Ordnung Europas, zerstörte Imperien, entgrenzte die Gewalt und öffnete das Tor zu radikalen Ideologien. Ohne 1914 kein 1917, kein 1933, kein 1939. Die kommunistische Revolution, der Faschismus, der Zweite Weltkrieg – sie alle wurzeln in der Urkatastrophe von 1914.

Zugleich war der Erste Weltkrieg der Bankrott eines übersteigerten Fortschrittsglaubens. Die Aufklärung hatte versprochen, durch Wissenschaft und Technik den Himmel auf Erden zu ermöglichen. Doch im Maschinengewehr, in der Gasmaske, im Schützengraben entlarvte sich diese Hoffnung als Hybris. Der technische Fortschritt wurde zur rationalisierten Barbarei.

Auch Bismarcks Bündnispolitik – ausgleichend, vorsichtig, kontrollierend – war eine Antwort auf die explosive Macht europäischer Nationalstaaten. Als sie nach seinem Sturz aufgegeben wurde, traten jene starren Bündnisautomatismen in Kraft, die das politische Pulverfass Europas schließlich zur Explosion brachten.

Putins Narrativ vom sowjetischen Zusammenbruch als größter Katastrophe ignoriert all das. Es ist nicht Ausdruck einer historischen Analyse, sondern ein machtpolitischer Reklametext. Es geht nicht um das Leid der Menschen, sondern um den Verlust von Einfluss. Nicht um Aufarbeitung, sondern um Reinszenierung imperialer Ansprüche.

Wer die wahre Katastrophe des 20. Jahrhunderts verstehen will, muss nach 1914 blicken – und weiter zurück zu den geistigen und politischen Vorbedingungen. Nur so lässt sich begreifen, wie ein Jahrhundert beginnt, das mit zwei Weltkriegen, einem Kalten Krieg und globaler Spaltung in die Geschichte eingeht.

Nicht der Zerfall der Sowjetunion war die Katastrophe – er war die späte Folge eines zerrissenen Jahrhunderts. Die eigentliche Katastrophe war der Moment, in dem Europa den Glauben verlor – an sich, an die Vernunft, an die Beherrschbarkeit seiner selbst.